Was ist Pendeln, was ist Flattern?
Mit dieser einfachen Frage kann man ziemlich jeden Fahrlehrer aus der Ruhe bringen. Wie erkläre ich es dem Fahrschüler und - viel wichtiger - was weiß ich darüber? Klar steht etwas im Lehrbuch, wenn überhaupt richtig erläutert und beschrieben (siehe Literatur 8 sowie 19) aber so aus dem Handgelenk wird es schon schwieriger.
Zunächst einmal steht und fährt das Motorrad nicht von alleine. Der Fahrer muss korrigierend eingreifen. Bis 20 km/h ist das Motorrad nicht stabil und kippt um, wenn der Fahrer nicht über einen Gleichgewichtssinn verfügt. Von 20 bis 40 km/h halten die Kreiselkräfte das Motorrad stabil. Das Motorrad fährt Schlangenlinie, kippt aber nicht um. Ab 40 km/h fährt das Motorrad quasi-stabil, von Störungen abgesehen. Das heißt, der Fahrer kann die Hände von der Lenkung nehmen. Mancher Jugendlicher hat das bestimmt schon mal mit dem Fahrrad ausprobiert, freihändig den Berg hinunter!
Flattern
Die harmlosen Störungen nennt man Flattern. Dies betrifft keineswegs nur Motorräder. Jedes gezogene Rad (Auto, Flugzeug, Einkaufswagen) schwingt um die Drehachse - "Lenkerflattern". Hat man beim Einkaufen einen schlechten Einkaufwagen erwischt, bei dem die Achse nicht richtig läuft, flattert das Rad nach dem Anschieben, und flugs wird der Wagen zurückgestellt. Beim Auto spürt man bei einer bestimmten Geschwindigkeit (70...90 km/h) eine Lenkradunruhe. Beim Motorrad wird dieses Phänomen deutlich spürbarer. Der kritische Bereich liegt zwischen 60...80 km/h bei einer Flatterfrequenz von 7...10 Hz (Schwingungen pro Sekunde). Diesem Phänomen rückt man bei kritischen Maschinen mit Lenkungsdämpfer und Reifenwahl (daher die Markenbindung) zu Leibe.
Pendeln
Beim Pendeln wird es schon schwieriger. Untersuchungen haben gezeigt, dass es viele verschiedene Ursachen gibt, die sich zum Teil gegenseitig beeinflussen. Das Pendeln tritt mit einer Frequenz von 2,5...4 Hz um die Längsachse - Bewegungen wie beim Bootfahren, nur schneller - auf, meist erst ab einer Geschwindigkeit über 130 km/h. Prinzipiell pendelt jedes Motorrad. Wenn das Motorrad gut durchkonstruiert wurde, klingen die Pendelbewegungen schnell wieder ab. Nach Schmieder soll ein Motorrad bei einer Pendelfrequenz von 3,5 Hz einen Pendeldämpfungsgrad von D = 0,05 haben, also das Pendeln nach 1 Sekunde abklingen. Die Frequenzen der Bewegungsvorgänge beim Menschen liegen übrigens zwischen 1...2 Hz, er kann also nicht regulierend eingreifen !
Auswirkungen auf das Pendeln haben:
Rahmenbauart: Bei den heutigen Sportmaschinen werden mittlerweile stabile Konstruktionen angewendet. Kritisch wird es bei den schnellen Enduros - die, um Gewicht zu sparen auch eine einfache Rahmenversion (Einrohrrahmen) aufweisen. Reisetourer, siehe weiter unten.
Telegabel: Die Tauchrohre sind mittlerweile auch bei den einfachen Maschinen von so hoher Qualität, dass man durchaus behaupten kann: Fahrwerksseitig haben die modernen Motorräder die Motorentwicklung eingeholt.
Lenkungsdämpfer: Eigentlich nur ein Hilfsmittel, um die Konstruktionsschwächen auszugleichen (zu kurzer Nachlauf, steiler Lenkkopfwinkel) - er soll den Kickback (Zurückschlagen) der Lenkung bei entlastetem Vorderrad, reduzieren.
Lenklagervorspannung: Auf feinfühlige Justierung achten.
Lenkerbauart: Hochlenker ist kritisch.
Vorderradunwucht : Verstärkt auch das Flattern.
Verkleidung: Wichtig: - keine Lenkerverkleidung, die nicht rahmenfest ist.
Schwerpunktlage: Richtige Beladung mit dem schwerstem Gepäck im Tankrucksack, weniger Schweres in die Packtaschen, gleichmäßig verteilt, im Topcase nur ganz leichte Dinge - eigentlich klar.
Beifahrer - Sozius: Interessanterweise tritt mit Beifahrer das Pendeln geschwindigkeitsbezogen viel später oder gar nicht auf - Sozius ist nicht nur "Reifenschoner" sondern Nervenschoner !
Kurvenfahrt: Durch Unebenheiten kann auch eine pendelstabile Maschine zu "rühren" anfangen.
Bodenwellen bei Geradeausfahrt.
Sitzposition: Füße auf Sozius-Rasten ist kritisch.
Kleidung: Regenkleidung - aber wer fährt bei Regen damit schon schnell ?
Entgegen weitläufiger Verbreitung, haben zu niedriger Reifendruck und abgefahrene Reifen bei Geradeausfahrt keinen Einfluss auf das Pendeln! (siehe 11 Seite 70 ff sowie Seite 102)
Richtig öffentlich bekannt wurde das Pendeln erst seit 1978, (BMW R-Fahrer kannten das ja schon länger) durch die Honda Gold Wing GL 1000. Die Angehörigen eines verstorbenen Motorradfahrers klagten mit Erfolg gegen den Hersteller (BGH v. 09.12.1986 Az: VI ZR 65/86). - das Motorrad pendelte in einer abschüssigen Rechtskurve bei einer Geschwindigkeit von 140 - 150 km/h so stark, dass der Fahrer vom Motorrad stürzte und sich tödliche Verletzungen zuzog. Ursache war eine Lenkerverkleidung (Abnahme: Prüfbericht TÜV Bayern vom 20.06.1977 sowie Ergänzungen vom 08.11.1977 und 31.10.1979), die nicht rahmenfest montiert war. Die Nachwirkungen dieses Urteils kann man heute noch sehen, nämlich die Produkthaftung für Packtaschen nur bis 130 km/h !!!
Literatur:
1 |
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Bayer, Bernward: Auslegungssache. Untersuchungen zur Fahrdynamik. PS 10/1986. Seite 70 ... 76. |
2 |
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Bayer, Bernward: Kontaktsuche. Reifenhaftung auf der Fahrbahn. PS 2/1987. Seite 40 ... 44. |
3 |
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Bayer, Bernward: Physik in Schräglage. Analyse der Kurvenfahrt. PS 5/1987. Seite 60 ... 63. |
4 |
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Bönsch, H.W.: Einführung in die Motorradtechnik. Motorbuch Verlag Stuttgart. 3. Auflage 1981. |
5 |
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Bönsch, H.W.: Fortschrittliche Motorrad-Technik. Motorbuch Verlag Stuttgart. 1. Auflage 1985. |
6 |
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Breuer, B.: Skriptum Vorlesung Motorräder. Fahrzeugtechnik TH Darmstadt. Fzd Darmstadt. 1985. |
7 |
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Chenchanna, Pidigundla / Hieronimus, Klaus: Die Rahmenelastizität eines Zweiradfahrzeuges und ihre Bedeutung in bezug auf Fahrstabilität. Automobil-Industrie. 1/1980. Seite 99 - 104. |
8 |
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Fahren lernen. Lehrbuch A. Heinrich Vogel Verlag. 1. Auflage 1999. |
9 |
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Foale, Tony/Willoughby, Vic: Motorradfahrwerk heute. Motorbuch Verlag Stuttgart. 1. Auflage 1988. |
10 |
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Forschungshefte Zweiradsicherheit. Nr.3. Der Motorradunfall. Beschreibung, Analyse, Prävention. Institut für Zweiradsicherheit. Bochum. 1. Auflage 1986. |
11 |
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Forschungshefte Zweiradsicherheit Nr. 4. Das Pendeln und Flattern von Krafträdern. Institut für Zweiradsicherheit. Bochum. 1. Auflage 1986. |
12 |
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Hackenberg, Ulrich / Helling, Jürgen: Ein Vergleich der Geradeaus-Fahrstabilität schneller Krafträder. ATZ. Automobiltechnische Zeitschrift 85(1983) 9. Seite 583 ... 588. |
13 |
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Helling, Jürgen: Umdruck zur Vorlesung Krafträder. Institut für Kraftfahrwesen RWTH Aachen. 1985. |
14 |
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Koch, Joachim: Experimentelle und analytische Untersuchungen des Motorrad-Fahrer-Systems. Dissertation. Berlin. 1978. |
15 |
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Mo Heft 2/1986 - Seite 86. Rauhe Sitten. Gefährliche Längsrillen auf Autobahnen. |
16 |
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Pachernegg, Stefan / Michel, Rolf-Peter: Fahrstabilität bei Motorrädern. Automobil-Industrie 3/1982. Seite 341 ... 345. |
17 |
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Praxishefte Zweiradsicherheit Nr.5. Institut für Zweiradsicherheit. Heinrich Vogel Verlag, München 1990. |
18 |
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Schmieder, M.: Entwicklung eines Prüfverfahrens zur Beurteilung der Hochgeschwindigkeitsstabilität von Motorrädern. Forschungsberichte des Bundesministers für Verkehr. Bereich Fahrzeugtechnik. Bundesanstalt für Straßenwesen. 1991. |
19 |
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Spiegel, Bernt: Die obere Hälfte des Motorrads. Heinrich Vogel Verlag. München. 3. Auflage 1999. |
Über den Autor
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Thomas Ihle
seit 1985 Fahrlehrer,
davor Polizeibeamter
(u.a. Unfallermittler in Stuttgart),
lebt und arbeitet in Krefeld.
Spezialgebiet: Motorradphysik
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E-Mail |
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Homepage: www.thomas-ihle.de
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